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[GM]Heimkehr
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12.01.2004, 22:34 #1
Superluemmel
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[GM]Heimkehr
Der Sturm war vorüber. Leise tappend zerplatzten die letzten Boten des Unwetters in Form winziger Tropfen auf den feucht glänzenden Planken des bauchigen Frachters. Das Rauschen der den Bug umspielenden Wellen büßte an Wildheit ein, bis es eher wie ein sanftes Flüstern wirkte, das dem vor wenigen Minuten noch wild bockendem Schiff zuraunte, sich zu beruhigen. Während sich im Osten die bedrohlich düsteren Wolkenmassen des Sturms wie der Leib eines gewaltigen Ungeheuers davonwälzten, brach das Grau des Himmels im Westen auf. Obwohl der blaue Himmel weiterhin verborgen blieb, zeichnete sich ein von Licht durchfluteter Spalt ab, der das graue Wolkenmeer spaltete.
Eine frische Böe verfing sich in den Leinen des rautenförmigen Hauptsegels und ließ es wie die Brust eines siegreichen Helden schwellen, das Schiff legte sich knarzend auf die Seite. Währand das Handelsschiff an Fahrt gewann, klärte sich allmählich die Sicht. Zuvor verborgen vom raunenden Schleier des Regens, schälte sich der Umriss einer weitläufigen Landmasse am Horizont hervor.
"Wir haben es geschafft!"
Dem Ruf Kapitän Fjornars folgte ein Aufschrei der Erleichterung aus gut zwei Dutzend Kehlen. Heftig blinzelnd rieb sich Frost die letzten Regentropfen aus den Augen, um sich davon zu überzeugen, dass er keiner Illusion erlegen war. Doch die wie ein Miniaturgebirge wirkende, graubraune Silhouette am Horizont wollte nicht weichen. War es wirklich wahr? Würde er nach all den Jahren wirklich in seine Heimat zurückkehren können?
Es war wie das Erwachen aus einem Traum. Während der dunkle Schemen allmählich wuchs, wandelte sich der anfängliche Unglauben geradezu quälend langsam in flammende Hoffnung, dann in stille Erwartung und unangenehme, innere Unruhe. Vor ihm lag die Rimmersmark. Hammerfoldt. Heimat. Familie.
Esthera.
Ein tiefer Atemzug füllte seine Lunge mit der kühlen, einen salzigen Hauch mit sich tragenden Meeresluft der Nordmeere. Einen Augenblick lang genoß er das leichte Brennen der Nasenflügel beim Atmen, die Berührung der eisigen Kälte, die sich seine Kehle hinabtastete. Trotz des wie Messerklingen in seine Haut schneidenden Windes war es für Verhältnisse der Rimmersmark ungewöhnlich warm. Glück für die Besatzung des Schiffes. Wäre es etwas kälter gewesen, hätte sie statt einem vergleichsmäßig harmlosen Sturm ein ausgewachsener Blizzard begrüßt. Frost war sich nicht sicher, ob das Schiff einen solchen Schneesturm überlebt hätte.
Ein Blick auf das Schiffsdeck brachte eine klare Antwort auf diese Frage. Losgerissene Taue lagen wie die blassen Leiber dicker Schlangen in perfektem Chaos auf dem Deck herum, Holzsplitter umsäumten den Teil der Reling, der von zwei Frachtkisten durchschlagen worden war, als sich ihre Halteseile lösten. Vom Kielschwein war nur noch ein armseliger Stumpf übrig, der wie der Stummel eines amputierten Fingers in Richtung der Nordmarken wies. Ein Gemisch aus Salz- und Regenwasser verwandelte das Schiffsdeck in eine gefährliche Rutschbahn, in der Nähe des Mastes zogen sich rote Schlieren durch die Pfützen. Am Mast selbst hing der erstarrte Körper eines Söldners, halb sitzend, die knochenbleichen Hände um den Schaft eines harpunenartigen Geschosses verkrampft, welches ihn mit unbeschreiblicher Wucht in die Brust getroffen, über das Deck geschleudert und an den Mast genagelt hatte. Sein Kopf hing leicht im Nacken, der Mund war zu einem Schmerzensschrei geöffnet, doch hatte niemals mehr als ein qualvolles Röcheln seine Kehle verlassen. Durch den brutal wütenden Sturm hatte bisher niemand Gelegenheit gehabt, die Leiche den Wellen zu übergeben. Und er war nur einer der Toten, die diese Fahrt gefordert hatte.
Drei Schiffe waren es ursprünglich gewesen. Gemeinsam hatten sie das Wagnis auf sich genommen, die Orkblockade zu durchbrechen. Für Handelswaren aus dem von Orks bedrohten Gebiet wurden beachtliche Preise gezahlt - Grund genug für manchen Kapitän, das Risiko einer Überfahrt einzugehen. Es gab nur zwei mögliche Ausgänge eines solchen Unternehmens. Entweder wechselte eine beträchtliche Anzahl an Münzen den Besitzer oder ein weiteres Schiff befand sich mit Mann und Maus auf der Reise zum Grund des Ozeans. Die Voraussetzungen der Fahrt waren beinahe optimal gewesen. Tagelang war kein einziges Orkschiff in Sicht gekommen.
Dann hatte sich das Schicksal schlagartig gewendet. Adanos selbst schien das Land in seinen Wassern ertränken zu wollen, als sich das Licht eines Blitzes auf dem schwarzen Holz einer Orkgaleere brach. Sekundenbruchteile später vermischte sich das Getöse von Geschützfeuer mit dem ohrenbetäubenden Donnerschlägen des Sturms. Das Schiff bäumte sich wie ein verletzter Stier auf, als Geschosse in Rumpf und Deck einschlugen, Fetzen aus der Takelage rissen und Leiber wie Papier durchbohrten. Das Ruder der Estharia wurde schon bei der ersten Salve von der Kugel eines Torsionsgeschützes zertrümmert, durch den starken Wellengang vom Kurs abgebracht, krachte das Begleitschiff in die Flanke der Galeere und riss die komplette Seite auf. Die Kollision hatte zwar das Schicksal des Frachters und der Besatzung besiegelt, doch gleichzeitig die beiden anderen Schiffe gerettet. Für die sich in tödlicher Umklammerung mit dem schwarzen Giganten befindene Estharia wäre jede Rettung zu spät gekommen.
Die Schwesternschiffe hatten den Sturm mit Mühe und Not überlebt, wenn auch nicht ohne Verluste. Von der ehemals mehr als dreißig Mann starken Besatzung waren noch etwas mehr als zwei Dutzend übrig. Das Schiff selbst glich einem Schlachtfeld. Frost zweifelte daran, ob die Lysandrië jemals wieder über die Weltmeere segeln würde. Ebenso fragte er sich, warum er ausgerechnet auf dem Schiff hatte anheuern müssen, das neben der Estharia am meisten Treffer abbekommen hatte.
Seine Rippen protestierten mit neuen Schmerzwellen, als er seine Hand aus der Umschlingung eines Halteseils befreite, mit dem eine fast mannshohe Kiste an der Achtertrutz festgezurrt worden war. In dem Schlitz zwischen dem ledernen Handschuh und Ärmel wand sich ein roter Striemen um sein Handgelenk. Die Mundwinkel des Kriegers verzogen sich zu einer Grimasse, als er vorsichtig seine Brust befühlte. Der pochende Schmerz erinnerte ihn nur zu gut an die Frachtkiste, welche einem Überbordgehen im Weg gestanden hatte, als eine gigantische Welle das Schiff umzukippen drohte. Immerhin schien nichts gebrochen zu sein. Wahrscheinlich eine Prellung, doch auch dieser Schmerz würde im Lauf der nächsten Tage vergehen.
Sich auf dem schwankenden Schiffsdeck nach sicherem Halt bemühend, arbeitete sich der Waffenmeister in Richtung des Bugs vor. Das letzte Licht der untergehenden Sonne brach in orangeroten Strahlen aus der noch immer tiefhängenden Wolkendecke hervor, zeichnete die Kronen der Wellen nach und badete die größer werdende Landmasse in einen feurigen Schein. Flammen schienen den zutiefst schwarzen Schatten einzuhüllen, ein geradezu paradox scheinender Kontrast zu dem weißen Mantel aus Schnee, der sich um diese Zeit über die Mark gelegt haben müsste. Dort, in weiter Ferne, verborgen hinter dem dichter werdendem Schleier der nächtlichen Finsternis, lag Hammerfoldt. Von dort aus war es eine knappe Tagesreise bis nach Thjerenfeldt, jenem Dorf, in dem er vor all den Jahren seine Familie zurückgelassen hatte. Fast sechzehn Winter war es jetzt her, seit er die heimatlichen Gefilde verlassen hatte. Sechzehn Jahre, in denen er mit den Erinnerungen gekämpft hatte. Jedes Mal, wenn ihm die Sehnsucht nach Esthera den Schlaf geraubt hatte, hatte er sich selbst verflucht. Verflucht für seine Entscheidung, jemals der Armee beigetreten zu sein. Verflucht für seine unglaubliche Dickköpfigkeit und seinen geradezu lächerlichen Ehrgeiz, der ihn für einen solch verhängnisvollen Fehler erst anfällig gemacht hatte.
Doch in sechzehn Jahren hatte er viel Zeit zum Nachdenken gefunden. Verdammt, er hatte so viele Fehler begangen. Fehler, die sich nicht mehr rückgängig machen ließen. Nichts, keine Macht der Welt konnte ein Menschenleben zurückbringen. Zumindest nicht in seiner gesamten Form. Eine Lektion, die Frost mehr als ausführlich hatte lernen müssen. Es hatte Momente gegeben, in denen er sich gewünscht hätte, ja, in denen seine gesamte Existenz geradezu danach geschrieen hatte, die Zeit zurückdrehen zu dürfen, und wenn es nur ein kleines Stück gewesen wäre. Die Zeit...
Im Laufe der Geschichte hatte der Mensch gelernt, seine Umwelt zu verändern, sie zu seinem Vorteil zu formen. Er hatte sich über die anderen Lebewesen erhoben, sich seine Position von nichts streitig machen lassen. Die Gelehrten hatten das Geheimnis der Magie entschlüsselt, um sie sich untertan zu machen, unbezwingbar erscheinende Berge waren erklommen und die See befahrbar gemacht worden. Und jenseits jeglicher Zivilisation hatte ein in Vergessenheit geratener Wissenschaftler künstliches Leben erschaffen und sich sogar den Himmel unterworfen. Dennoch war es keiner bekannten Macht vergönnt gewesen, den Strom der Zeit rückwärts fließen zu lassen. Und Frost hatte ebenso wie jeder andere Mensch lernen müssen, mit den Folgen seiner Entscheidungen weiterzuleben. Persönlicher Schmerz war ein Element, das in der kosmischen Ordnung unwichtig war.
Vielleicht war das auch der Grund gewesen, warum er sich vom Götterglauben abgewandt hatte. Unfähig, die Schuld für seine Fehler bei sich selbst zu suchen, schob er sie der nächstliegenden, höheren Instanz zu. Ein weiterer Punkt, für den er sich selbst verfluchen könnte. Doch irgendwann hatte er akzeptiert, dass es nichts brachte, die Verantwortlichkeit weiterhin so lange auf seine Schultern zu laden, bis sie ihn erdrückte. So hatte er sich auf die Suche nach einem Weg gefunden, der ihm selbst die nötige innere Zuversicht und somit auch den Respekt vor dem Rest der Welt zurückgeben konnte.
Und er hatte ihn gefunden.
Zumindest glaubte er das. Sicher konnte er sich nicht sein. Das konnte niemand. Fehler werden aus anderen Fehlern geboren und bilden eine nicht enden wollende Kette, die sich nicht ohne immensen Kraftaufwand brechen lässt. Dennoch, soweit er es von seinem derzeitigen Standpunkt aus erkennen konnte, hatte er zu sich selbst zurückgefunden. Es war eine Odyssee, die fast ebenso lang angehalten hatte wie sein Exil. Und in der Zwischenzeit hatte sich so viel verändert...
Als der Krieger nur als einsamer Schatten erkennbar hinter dem zerborstenen Kielschwein stand und in den Horizont starrte, legte sich die Trauer wie eine eiserne Klammer um sein Herz. Die Brise frischte auf, doch er ignorierte die einzelnen Haarsträhnen, die ihm über die Augen sprangen. Nicht nur für ihn hatte sich das Rad der Zeit weitergedreht. Er wusste nicht einmal sicher, ob Esthera noch immer in dem Blockhaus wohnte. Doch er glaubte nicht daran, dass sie ausgezogen sein könnte. Ein Teil seiner Seele schauderte allein schon beim Gedanken daran. Nein, Esthera hatte es nicht getan. Das Haus war mehr als eine bloße Aufeinanderschichtung von Holzbalken. Sie hatten es zusammen errichtet, als sie nach Thjerenfeldt gezogen waren. Es war eine Erinnerung, ein Teil ihres gemeinsamen Lebens, der erste Ort, den sie beide als Zuhause bezeichnet hatten. Und was war aus Sheyra geworden? Als er sie zusammen mit Esthera zurückgelassen hatte, war sie gerade einmal vier Jahre alt gewesen. Frost hatte sie mit dem Versprechen verlassen, dass er bald zurückkehren würde. Noch einmal dachte er an diesen letzten Abschied zurück. Etwas hatte in Estheras Blick gelegen, hatte den klaren, reinen Glanz ihrer blauen Augen getrübt und ihrem Lächeln ein Bruchstück an Ehrlichkeit geraubt. Hatte sie es schon damals gewusst? Eine düstere Vorahnung gehegt, dass Frosts Versprechen nicht mehr als ein heimlicher Wunsch gewesen war?
Mehr war es letzten Endes nicht gewesen. Wenige Tage später hatte sich Frosts Leben in einen Gestalt gewordenen Alptraum verwandelt, ein Teil seines Weltbildes war in dem schwarzen Schlund von Beliars Reich versunken. Fremde Gier nach Macht hatte ihn davongerissen, fort von seiner Familie, hinein in die zuckende Blitzbarriere der khorinischen Gefängniskolonie. Mitten in eine neue Hölle aus Anarchie und Verbrechen. Damals hatte Frost aufgehört, zu existieren. Ein Teil von ihm, derjenige seiner Seele, der noch immer am Leben hing, hatte seinen innerlich toten Körper weitergetrieben, als ein Schatten seiner Selbst war er durch die Barriere gezogen, stets auf der Suche nach Erlösung von seiner Qual. Erst als selbige ihm nach Jahren verwehrt blieb, begann sich sein zerschundener Körper langsam zu regenerieren.
Mittlerweile war Sheyra erwachsen. Wahrscheinlich konnte sie sich nicht einmal mehr an ihren Vater erinnern. Er hatte sie nahezu ihr gesamtes Leben lang allein gelassen. Wieder einmal ertappte sich Frost bei dem Gedanken, das Geschehene ungeschehen machen zu wollen. Es brachte nichts, er hatte seiner Verantwortung als Vater nicht nachkommen können. Was auch immer daraus resultieren sollte, er würde die Folgen tragen müssen.
Bevor er sich umwandte, um dem Rest der Besatzung mit dem Beseitigen der Sturmbeschädigungen zu helfen, bedachte Frost das in Dunkelheit versinkende Land noch einmal mit einem langen, sehnsuchtsvollen Blick. Irgendwo in der Finsternis brach sich ein einzelner, glutroter Lichtstrahl auf stählerner Dachverkleidung, wuchs für den Bruchteil einer Sekunde zu einem gleißenden Lichtpunkt heran, gleich einer miniaturisierten Sonne, bevor er verblasste und den Schatten der Nacht den Weg räumte. Bald, bald würde die Heimat ihn wiederhaben...
18.01.2004, 18:44 #2
Superluemmel
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Klimpernd rempelten Eisenstäbe einander an, als behandschuhte Finger einen weiteren Kletterhaken in seine verlassen wirkende Halteschlaufe fallen ließen. Der lederne Schutzmantel der Kletterausrüstung war abgegriffen und bleich, die Ränder ausgefranst von den Strapazen, die sie über die Jahre hinweg ertragen hatten müssen. Wenn man das zerschlagene Stück Leder betrachtete, kam man unweigerlich zu dem Schluss, dass das kleine Etui über irgendeine verborgene Kraft verfügen musste, die seine Reste zusammenhielten. Anderenfalls hätte es sich längst in seine Bestandteile aufgelöst. Doch so reihte es sich direkt neben einer mit Stoffetzen ausgepolsterten Phiole in den Innenraum der Ledertasche ein, die Frost stets bei sich zu tragen pflegte. Die Phiole stellte den letzten Überlebenden seines Ausfluges zum Herzen des Feuers dar. Die restlichen Flaschen waren bei seinem letzten Abenteuer zu Bruch oder verloren gegangen.
Haarscharf war er damals an der Schwelle zu Beliars Reich vorbeigeschrammt. Die letzten Augenblicke vor seinem Sturz in die schwarzen Fluten brannten noch immer so frisch in seinem Gedächtnis, als ob sie erst wenige Tage zurückliegen würden. In Wirklichkeit war seitdem fast ein halbes Jahr vergangen. Vor seinem inneren Augen sah er dennoch klar und deutlich das Gesicht des Waldstreichers Scipio Cicero, in seinen Ohren klatschte noch einmal das Wasser über seinem Kopf zusammen, das vom Meerwasser glitschige Seil floss zwischen seinen Fingern dahin als ob er versuchen würde, einen Aal mit bloßer Hand festzuhalten. Während sein erst kürzlich wieder eingerenkter Daumen pulsierend vor Schmerz den Dienst verweigern wollte, zerrte und riss eine unsichtbare Macht an seinem Körper, zog ihn gleichzeitig in Richtung Schiffsheck wie in die Tiefe. Einem galloppierenden Pferd gleich schoss das Schiff an ihm vorbei, oder er selbst an dem Schiff, in seiner Lage ließ sich der Unterschied nicht feststellen. Er spürte die eisige, nasse Umklammerung der Kälte, die seinen Körper zu zerdrücken drohte, fühlte das Brennen seiner nach Sauerstoff keuchenden Lungen. Noch einmal griff er mit all der Kraft, die ihm die schiere Verzweiflung, der Drang eines verwundeten Wolfes zu überleben, gab nach dem Seil, vergrub seine Finger in den durch die Kälte steinhart gewordenen Hanffasern, ignorierte den Schmerz, als er von einer Sekunde auf die andere wieder von dem Schiff mitgerissen wurde. Vor seinen Augen wechselnden schillernde Lichtreflexionen mit schwindelerregender Geschwindigkeit ihre schäumenden Tanzpartner, seine Hände waren ebenso wie das Seil in dem Wirbel übereinanderstürzender Fluten unsichtbar. Er befürchtete, seine Finger würden jeden Augenblick wie Glas zerspringen, in stummer Agonie öffnete er den Mund um seine Schmerzen in die Welt zu entlassen und - konnte wieder atmen. Keuchend erfüllte die kühle Luft seine Lungen, trieb mit sanftem Brennen die Lebensgeister zurück in seinen zerschundenen Leib. Frost gönnte sich eine Sekunde Zeit um sich wirklich davon zu überzeugen, noch am Leben zu sein. Dann griff er erneut nach dem Tau, um sich daran emporzuziehen, vergrub noch einmal seine Zähne in der Unterlippe, um einen schmerzerfüllten Schrei zu unterdrücken. Irgendjemand schrie etwas unverständliches, das im Rauschen seiner von Wasser erfüllten Ohren unterging. Im nächsten Moment traf ihn ein Schlag mit der Wucht eines Vorschlaghammers in den Rücken, raubte ihm für einen Herzschlag die Kontrolle über seinen Körper und ließ ihn wie eine Puppe zusammenklappen. Er spürte noch, wie erneut die schwarzen Wellen nach ihm griffen, dann verwandelte sich die Welt vor seinen Augen in ein Kaleidoskop aus miteinander verschwimmenden Farben.
Dem Krieger fiel es schwer, sich an das Nachfolgende zu erinnern. In seinem Gedächtnis fand er nur bruchstückhafte Erinnerungen, die von durcheinanderhuschenden Schatten beherrscht wurden. Sie nahmen erst wieder ab dem Zeitpunkt Gestalt an, an dem er von einem Fischer aus dem Meer gezogen worden war. Selbst hier begründete sich sein Wissen hauptsächlich auf den Erzählungen des Fischers, die er mit ihm geteilt hatte, nachdem er nach Wochen im fiebrigen Delirium in die Welt der Lebenden zurückgekehrt war. Zusammengefasst ließ sich sagen, dass er tagelang durch den Ozean getrieben sei musste, bevor das Netz des Fischers seiner Odyssee ein jähes Ende bereitet hatte. Wie er auch nur die ersten Minuten im eisigen Wasser überlebt hatte, blieb dem Waffenmeister weiterhin ein Rätsel. Bislang hatte er sich mit der Erkenntnis zu trösten gewusst, dass er überhaupt noch am Leben war.
Diese Überlegung hatte ihm gleichzeitig Gelegenheit gegeben, sich mehr Gedanken über den Verbleib seiner Gefährten als um sein eigenes Wohlergehen zu machen. Ob die Meuterei letztendlich doch noch geglückt war? Und selbst wenn, hatte das waghalsige Abenteuer noch weitere Opfer unter den Gefährten gefordert? Hatten sie das mysteriöse Seemonster überhaupt noch gefunden oder waren sie mutlos und entkräftet mit leeren Händen in die heimatlichen Gefilde zurückgekehrt?
Irgendwo in seinem Innersten schmerzte es dem Krieger, seine Gefährten enttäuscht zu haben, auch wenn ihm seine Vernunft noch so laut sagte, dass er nichts hätte tun können. Hatte er das wirklich nicht? Vielleicht wäre ihm ein besserer Plan eingefallen, wenn er etwas länger über ihre Situation nachgedacht hätte. Und wenn nicht ihm, dann einem der anderen. Dann die Sekunde des Zögerns, der winzige Moment der Ruhe. Hätte er auf seinen Verstand gehört, hätte er sich zuerst in Sicherheit geflüchtet, bevor er eine Pause einlegte. Es gab unzählige Variablen, von denen jede einzelne die komplette Geschichte hätte verändern können.
Vielleicht war es auch besser so, wie es passiert war. Er war sich nicht sicher, ob er sonst einen Weg zurück in die Heimat gefunden hätte. Doch das Leben war ein Glücksspiel, man konnte nie im Voraus wissen, wie die Würfel fielen. Dennoch dachte Frost oft an die Menschen zurück, die er auf Khorinis zurückgelassen hatte. Ja, selbst in diesem fernen Land hatte er Freunde finden können. Freunde aus den unterschiedlichsten Kasten und Klassen. Er hatte sich sogar mit den Schwarzmagiern eingelassen, ein Umstand, der ihm vor seinem Exil als vollkommen unmöglich erschienen war. Wieder ein Beweis dafür, dass man sich nicht von Äußerlichkeiten lenken lassen sollte. Auch wenn die Wege der Diener Beliars teilweise arg abstrakt und abwegig, oftmals sogar erschreckend wirkten, brachten sie oftmals Lösungen ans Licht, an die ein Mensch mit seinen durch Gesellschaft und Sittentum eingeschränkten Moralvorstellungen niemals auch nur einen Gedanken verschwendet hätte. Sicher, ein gewisser Grad an Verrücktheit gehörte dennoch dazu. Sie als böse zu bezeichnen war jedoch falsch, ebenso wie es falsch gewesen wäre, sie als rechtschaffen zu betrachten. Die Schwarzmagier taten einfach das, was sie für richtig hielten. Genau wie jeder andere Mensch. Ob dies in den Augen anderer falsch war, blieb dem Urteil des Betrachters überlassen. Von ihrem Standpunkt ausgehend konnte Frost die Beliarsdiener durchaus verstehen.
Endlich hatte der Waffenmeister den Rest seiner Ausrüstung sicher verstaut und begann die Riemen der Schulterpanzerung festzuzurren. Die schwarze Panzerung schmiegte sich wie eine zweite Haut an seinen Körper, zufrieden stellte Frost fest, dass das Rüstungsteil jede Bewegung seines Armes mitmachte, als ob es an ihn festgewachsen wäre. Während er die restliche Armpanzerung mit den selben, geübten Handgriffen die er sich im Laufe der Jahre angewöhnt hatte, anlegte, lösten die Erinnerung an Khorinis und das Abenteuer auf hoher See langsam ihren Griff und verschwanden in derselben Tiefe, aus der sie emporgestiegen waren. Egal wie es seinen Gefährten ergangen sein mochte, er wünschte ihnen viel Glück auf ihrem Weg.
Die letzte Schnalle rastete leise klickend ein, Frosts Blick richtete sich auf den Waffengurt, der von seinen beiden Schwertern gestützt an der Wand hing. Er war zurückgekehrt um Frieden zu finden. Warum trug er also noch immer seine Waffen mit sich?
"Weil du deine Natur nicht einfach ablegen kannst", meldete sich eine dunkle Stimme in seinem Kopf, "Egal wohin du gehst, ganz gleich ob du deine Waffen mit dir führst oder nicht, der Kampf wird dir folgen. Du trägst deine Schwerter, sie stützen dich dafür. Gibst du sie auf, wirst du stürzen."
Nein, aufgeben konnte er sie nicht. Die Klingen hatten seinen gesamten Lebensweg gezeichnet, mittlerweile waren sie mit ihm verschmolzen. Und das gleich in vielerlei Hinsicht. Frost glaubte nicht an Bestimmung, Schicksal oder anderen Aberglauben. Diese Entscheidung hatte er für sich selbst getroffen. Vielleicht war er sich nicht über all ihre Folgen im Klaren gewesen, doch er hatte es gewollt. Im selben, kindlichen Übermut, den wohl alle Kinder ihrem väterlichen Vorbild entgegenbrachten. Doch selbst als er dem Kindesalter sowie der elterlichen Obhut längst entwachsen war, hatte er diesen Weg weiterhin verfolgt. Damals hatte er noch alle Alternativen offen gehabt. Mittlerweile war er über seine selbst gesetzte Grenze hinausgetreten.
So legte sich wenige Augenblicke später die Schutz vortäuschende Dunkelheit seines Umhangs über die beiden Schwertgriffe, ein letzter Blick auf die Koje brachte ihm die Gewissheit, dass er nichts vergessen hatte. Als ihn kurz darauf die kühle Luft der Polarnacht begrüßte und er die letzten Stufen vom Unterdeck hinaufstieg, sah er Kapitän Fjornar in der Nähe des Landestegs stehen. Die Unterarme des Seemanns stützten sich auf die erst kürzlich reparierte Reling, Rauchwölkchen stiegen aus der locker in seinem Mundwinkel hängenden Pfeife empor. Obwohl sich sein Blick in den von Dunkelheit erfüllten Gassen Hammerfoldts verlor, wusste der Krieger, dass der Kapitän ihn bemerkt hatte.
"So verlasst ihr uns also schließlich auch", paffte der Seebär zwischen zwei Zügen aus seiner Pfeife, drehte sich jedoch nicht herum. Frost blieb einen halben Schritt hinter ihm stehen und folgte seinem Blick. Die Konturen der Stadt zeichneten sich als unförmiger, schwarzer Schatten vor einem durch den Sichelmond schwach erhellten Nachthimmel ab. Nur noch in wenigen Fenstern war der gelblichrote Schein von Kerzen oder Kaminfeuer zu erkennen, einzig die Flammen der Leuchtfeuer waren auf ihren Säulen gleich in den Himmel stechenden Türmen zu sehen. Von Zeit zu Zeit brachte der Wind das Lachen aus den Tavernenstuben mit sich.
"Wenn ich ehrlich bin, kann ich es kaum erwarten, meinen Fuß auf das Pflaster zu setzen. Es ist so viel Zeit vergangen, dass ich nicht einmal mehr wusste, wie schwarz die Nächte der Rimmersmark sein können. Früher dachte ich, die Heimat sei eine jener Erinnerungen, die niemals verblassen können."
Fjornar nickte fast unmerklich, während sich über dem Pfeifenende kleine, rauchige Ringe bildeten.
"Sagt mir, Frost, was ist es für ein Gefühl, nach all den Jahren in die Heimat zurückzukehren?"
"Schwer zu beschreiben", meinte Frost als er neben den Kapitän an die Reling trat, "Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, was man mit der Heimat verbindet. Mir vermittelt dieses Land ein Gefühl von Sicherheit, ebenso Ruhe wie auch Aufregung. Einerseits kenne ich dieses Land wie meine Westentasche, andererseits weiß ich nicht, was sich in den vergangenen Jahren verändert haben mag. Ich weiß, dass ich hierher gehöre und dass hier meine Familie auf mich wartet, der Drang, sie wiederzusehen ist stark genug, um mich jahrelang am Leben erhalten zu haben."
Asche rieselte ins Wasser, als der Kapitän auf die Unterseite des Pfeifenkopfes klopfte.
"Ein Ort, an den man gehört...", Frost nickte langsam, "Ich habe nie einen solchen Ort gehabt. Bin auf der See geboren und aufgewachsen, hab einmal hier, einmal dort gelebt. Ich hatte nie etwas, dass ich Heimat nennen konnte. Aber ich glaube, dass es schön sein muss, einen solchen Ort zu besitzen..."
Erneut erwachte die Glut zu feurigem Leben, als Fjornar abermals an seiner Pfeife zog.
"Was ist mit eurer Mannschaft?", fragte Frost, "Fühlt ihr euch nicht wohl, wenn ihr zusammen über die Meere segelt?"
Der Kaptän zuckte mit den Schultern.
"Ich kenn die meisten nicht mal richtig. In jedem Hafen kommen zig Neue dazu, die meisten von ihnen verschwinden am nächsten oder werden von den Orks getötet. Gibt nur noch wenige, die ich als Freunde bezeichnen würde. Der Großteil von ihnen hockt jetzt in ?ner Spelunke und kippt sich den Sold hinter die Binde. Freilich gibt?s auch andere. Herlen zum Beispiel ist ein guter Mann, hat zwar keinen blassen Schimmer von Navigation, aber er ist?n helles Köpfchen. In?n paar Jahren könnte er den Dreh raushaben. Trotzdem, wirklich wohl fühl ich mich nicht mit dem Haufen."
"Nun, eine Lösung kann ich euch natürlich nicht anbieten", meinte der Krieger, während er die Wanderung einer einsamen Fackel auf einer der Mauern verfolgte, "Allerdings glaube ich, dass der Geburtsort selbst nur wenig mit der Heimat zu tun hat. Nur, weil ich in der Mark geboren wurde, würde ich sie noch lange nicht als Heimat bezeichnen. Ich glaube, ich habe sie erst selbst dazu gemacht, als ich Esthera traf."
Die Pupille Fjornars löste sich von der Stadt und kroch in den Augenwinkel, um Frost besser sehen zu können.
"Wollt ihr damit andeuten, ich soll mir ein Weib suchen?"
Dieses Mal hob Frost die Schultern. "Nicht unbedingt. Eventuell würde es euch helfen, wenn ihr euch zu Ruhe setzt. Eine Garantie gibt es nicht. Genug Geld dürftet ihr nach dieser Reise jedenfalls haben."
"Ho, das wohl", lachte der alte Seemann, "Dabei weiß ich ja nicht mal selbst, was ich mit dem Zeugs machen soll." Er seufzte tief und lang. "Vielleicht habt ihr recht und ich sollte mir wirklich?n Plätzchen suchen. Andererseits, was ist das Leben schon ohne die Seefahrt?"
?Irgendwann wird jeder des Reisens müde", entgegnete Frost, ?Wann, muss jeder für sich selbst entscheiden. Wenn ihr eure Heimat wirklich finden wollt, werdet ihr sie sicher eines Tages finden."
Frosts Blick suchte die dünne Sichel des Mondes.
"Ich wollte euch noch einmal danken, bevor ich gehe. Ohne eure Hilfe würde ich wahrscheinlich weiterhin jahrelang nach einer Überfahrtsmöglichkeit nach Hammerfoldt suchen. Ich schulde euch viel, drum schmerzt es mir, dass ich euch nicht mehr geben kann, als meinen zutiefsten Dank. Es war mir eine Ehre, euch bei dieser Reise begleiten zu dürfen."
Fjornar winkte ab.
"Lasst mal gut sein. Ich habe meinen Teil unseres Handels eingehalten und euch sicher zurückgebracht, ihr habt dafür die Grünhäute von meinem Schiff gefegt. Ihr schuldet mir ebenso wenig etwas, wie ich euch."
"Möge Adanos euch und euer Schiff schützen", sagte Frost während er zum Abschied die rauhe Hand des Kapitäns drückte.
"Und den euren", erwiderte Fjornar mit ernstem Blick, "Wer weiß, vielleicht trifft man sich eines Tages wieder."
"Vielleicht", antwortete Frost und trat auf den Landesteg hinaus, "Viel Glück auf euren Reisen, Kapitän."
Kaum setzte er den ersten Fuß auf den harten Stein des Piers, da holten ihn seine Gedanken an seine Familie auch schon wieder ein. Eine knappe Tagesreise trennte ihn von ihr. Sobald er die nötige Ausrüstung für seine Reise eingekauft hatte, war es nur noch eine Sache von Stunden, bis er Esthera wiedersehen würde. Dann würde die Heimat ihn wirklich wiederhaben...
03.02.2004, 17:54 #3
Superluemmel
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Borins Hütte drängte sich noch immer genauso ängstlich gegen die angrenzende Stadtmauer und die Wand des fast doppelt so hohen Nachbarhauses, wie Frost es in Erinnerung hatte. Es handelte sich wirklich mehr um eine Hütte als um ein Haus, ein Überbleibsel aus der Zeit zu der der vierte Mauerring höchstens in den Träumen irgendeines mittlerweile in Vergessenheit geratenen Architekten existiert hatte. Wenn er den Erzählungen des alten Züchters glauben durfte, so war sie sogar die einzige Hütte des gesamten Viertels gewesen, die das zweite große Feuer überstanden hatte. Schenkte man der Hütte einen längeren Blick, fiel es nicht schwer die Geschichte ernst zu nehmen. Mittlerweile lehnte sie sich weit nach hinten gegen die Stadtmauer und klammerte sich gleichzeitig fest am Nachbarhaus fest, als ob sie Angst hätte, nach hinten umzukippen. Wo das feste Mauerwerk des anliegenden Hauses ein erstes Obergeschoss stützte, krümmte sich bei Borins Hütte ein mehr als nur einmal nachgebessertes Dach über einen von Altersschwäche gebeugten Giebel. Direkt neben der Hütte grenzte ein abgegrenzter Pferch an, aus dem Hundegebell wuchs sobald sich der Krieger der Haustür näherte, unter einem eher behelfsmäßig wirkenden Schuppen ragten die Kufen eines niedrigen Schlittens hervor. Ein schriller, durchdringender Pfiff aus dem Hausinneren, dann verstummten die Hunde. Also war Borin zuhause.
Gerade als Frosts Fingerknöchel gegen die im Vergleich zur restlichen Hütte ungewöhnlich stabil wirkende Tür pochen wollten, wurde selbige von innen geöffnet und er sah sich einem vollbärtigen Mann mit unter den buschigen Brauen hervorblitzenden Augen gegenüber, dessen Schultern in der recht schmal ausgefallenen Tür wie eingeklemmt wirkten. Von der prächtigen, rostbraunen und scheinbar nicht zu bändigenden Mähne, die das Bild des Hundezüchters in Frosts Erinnerung schmückte, war nur noch ein wirrer Haarkranz übrig, welcher nur unzuverlässig die grauen Strähnen an den Schläfen verdeckte.
"Hab euch schon gesehen, Fremder. Kein Grund, mir gleich die Tür aus den Angeln zu klopfen."
Unter gehobener Augenbraue musterte er den Krieger. Frost konnte regelrecht spüren, wie sich sein Blick die Konturen seiner Rüstung entlangtastete, bevor er an seinem Gesicht hängenblieb. Er glaubte sehen zu können, wie in Borins Kopf arbeitete, seine Augenlider zogen sich enger zusammen, die Furchen in seiner Stirn vertieften sich. Schließlich rieb sich der Züchter in plötzlicher Hast imaginäre Staubkörner aus seinem Augenwinkel. Offensichtlich war es ihm unangenehm, den schwarzgepanzerten Mann vor seiner Haustür so lange angestarrt zu haben.
"Kann ich irgendetwas für euch tun?", fragte er weniger aus Höflichkeit als vielmehr um überhaupt etwas zu sagen.
"Das will ich zumindest hoffen. Ich brauche einen Schlitten, Fünfergespann sollte reichen", antwortete Frost, die Lippen zu einem schmalen Lächeln verziehend.
"Na viel mehr kann ich euch auch nicht mehr bieten. Der letzte Wurf war nicht besonders. Dafür sind es gute Tiere." Borin strich sich mit einem seiner breiten Finger durch den Bart, dann zuckte er die Schultern. "Wenn ich's mir so recht überleg, war der ganze verdammte Winter nicht besonders." Er wandte sich wieder Frost zu. "Erlaubt mir eine Frage."
"Nur zu", ermutigte ihn der Waffenmeister.
"Hat euch irgendwer hergeschickt? Meine Hütt'n ist nicht gerade günstig, vom Standort her, mein ich. Kommt nicht oft vor, dass ein neues Gesicht vorbeischneit."
"Nennt es Tradition", meinte Frost während sein Lächeln etwas an Breite gewann.
Die Falten in Borins Stirn mehrten sich.
"Seid ihr euch sicher, dass-", er verstummte. Unglauben mischte sich in den Glanz seiner Augen, als er schließlich mit leiser Stimme fragte: "... Frost?"
"Schön dich wieder zu sehen, Borin", grinste der Krieger.
Der Hundezüchter schüttelte den Kopf als ob ihn jemand vor die Stirn gestoßen hätte.
"Seid... bist das wirklich du? Nach all den Jahren..." Borin stand noch immer fassungslos da, den Blick wie festgefroren auf seinen alten Freund gerichtet.
"Ich bin es. Du hast dich gut gehalten, mein Freund."
"General! Du bist es wirklich!" Ehe sich Frost versah, fand er sich in fester Umklammerung des Züchters wieder.
"Nenn mich nicht so", erwiderte Frost während er versuchte, sich aus dem Schraubstockgriff Borins zu befreien. Ein Unternehmen, das schon im Voraus zum Scheitern verurteilt war. Was Borin an Körpergröße fehlte, machte er durch seine breiten Schultern wieder wett. "Komm schon, lass los. Oder willst du unbedingt das beenden, was sechzehn Jahre nicht zu vollenden imstande waren?"
"Ich kann?s immer noch nicht glauben..." Borin schüttelte den Kopf, als ob er aus einem Traum erwachte. "Wir dachten, du wärst längst tot."
Für die Dauer eines Wimpernzuckens flackerte das Lächeln des ehemaligen Generals. Wenn sein Freund wüsste, wie nah er sich an der Wahrheit bewegte...
"Es... gab Zeiten, da habe ich das selbst geglaubt", antwortete er ausweichend. Dann riss er sich zusammen, um endlich die Frage, die schon seit Beginn des Gesprächs aus ihm herausbrechen wollte, in Worte zu fassen. "Hast du etwas von Esthera gehört? Wie geht es ihr? Wohnt sie noch in unserem Haus?"
Der Züchter wich seinem Blick aus und kratzte sich am Hinterkopf.
"Frost...", begann er, brach dann aber ab und stampfte stattdessen mit dem Fuß auf. "Ich weiß nicht so recht, wie ich es erklären soll..."
Frosts Herz gefror zu einem Eisklumpen. Plötzliche Kälte hüllte ihn ein. War ihr etwas zugestoßen? Nein, das konnte nicht sein. Esthera konnte auf sich aufpassen. Es durfte nicht sein.
"Was ist mit ihr?" Er packte eine der breiten Schultern des Hundezüchters. "Borin, sprich endlich!"
"Es ist..." Borin blickte kurz in Frosts Augen, nur um dann wieder wegzusehen. "Esthera... sie hat... sie hat wieder geheiratet. Elistin."
Der Krieger löste seinen Griff.
"Das ist alles? Bei allen Göttern, ich dachte schon, ihr sei etwas zugestoßen!"
Borins Blick war starr vor Fassungslosigkeit.
"Du weißt es bereits?"
Erneut zeigte sich das Lächeln auf Frosts Zügen.
"Ja, ein Freund berichtete mir bereits vor zwei Jahren davon. Wohnt sie noch immer in Thjerenfeldt?"
Ein Nicken bestätigte seine Frage.
"Ja, zumindest hat sie das noch vor zwei Monaten. Bin hier schon länger nicht mehr weggekommen."
"Und Sheyra?"
"Die sieht man öfters hier in der Stadt. Scheint es soweit ganz gut zu gehen. Braucht sich auch vor niemanden zu verstecken. Wahrlich Frost, du kannst stolz auf sie sein." Das Gesicht Borins wurde von einem breiten Grinsen erhellt, als seine Pranke wuchtig auf Frosts Schulter klopfte. "Der Schlitten kann warten. Jetzt komm erstmal rein, damit wir deine Rückkehr feiern können."
Doch der Waffenmeister schüttelte entschieden den Kopf.
"Kann er nicht. Tut mir leid Borin, aber ich muss zu Esthera."
"Dann begleite ich dich", sagte Borin, als ob es selbstverständlich wäre. Er bedeutete Frost mit einem Wink, ihm zu folgen. Gemeinsam näherten sie sich dem Schuppen. "Jetzt, wo ich dich wiedersehe, überkommt mich doch fast wieder die Lust, ins Rudel zurückzukehren. Irgendwie hat mir das Leben hier nicht die Ruhe gebracht, die ich mir ersehnt hatte."
Das Rudel... Die Erwähnung seiner alten Einheit weckte in Frost neue Fragen.
"Wie geht es dem Rudel?", fragte Frost nachdenklich, "Ich habe gehört, Lorkar habe das Kommando übernommen."
Ketten klimperten leise, als Borin einen tiefliegenden, recht kurzen Schlitten aus dem Schuppen zog und das Geschirr überprüfte.
"Ja. Und rat mal, wer sein neuer Stellvertreter ist."
"Sifar", meinte Frost. Er brauchte gar nicht erst zu raten. Wenigstens etwas, was dieser Hund Kantar damals ausgespuckt hatte. Den Rest der Geschichte hatte er im Laufe der Jahre selbst herausfinden dürfen.
Borin reagierte mit achtvoll gehobener Augenbraue.
"Du hast dich wohl gut informiert. Was das Rudel betrifft, seit meinem Austritt habe ich kaum noch Kontakte. Hab neulich mal Elistin getroffen, der ist nicht gerade glücklich über die Umstände. Ach ja, Lorkar hat das Rudel umbenannt. Nennen sich jetzt die Sturmläufer."
Frost hatte mit etwas in der Art gerechnet. Offensichtlich versuchte Lorkar, die Erinnerung an seinen Namen auszutilgen. Doch das würde Frost zu verhindern wissen.
"Frost?" Borin stand mittlerweile vor einem Zwinger und hatte die Hand nach dem Türgriff ausgestreckt. "Ich geb dir Luka. Stammt noch direkt von der guten alten Eris ab. Pass auf, der Bursche hat mächtig Kraft in den Kiefern. Aber keine Angst, ich steh direkt hinter dir."
Er wartete noch auf Frosts Nicken, dann öffnete er die Tür. Ein tiefes, kehliges Knurren begrüßte den Waffenmeister, als er in den Zwinger trat. Aus dem Schatten einer Ecke schob sich der Körper eines großen Hundes mit schneeweißem Fell. Wie Borins mittlerweile sicherlich gestorbene Eris ähnelte auch dieser Schlittenhund noch stark einem Wolf. Die Lefzen entblößten ein mörderisches Gebiss, Frost glaubte die Muskelpakete sehen zu können, die sich unter dem dichten Fell spannten. Er tastete sich in geduckter Haltung näher heran, die Ohren aufgestellt, den fremden Krieger nicht aus den Augen lassend. Einen knappen Schritt entfernt verharrte er, einzig das Knurren wurde lauter. Vorsichtig ließ sich Frost in die Hocke sinken, bevor er langsam eine Hand ausstreckte, die Innenfläche den gefletschten Fängen entgegen.
Der Hund biss ohne Vorwarnung zu.
Und ließ ein gequältes Jaulen hören, als Frosts Linke blitzschnell seine Kehle packte, den Kopf zurückstieß und zu Boden drückte. Die Gegenwehr des Hundes ließ schlagartig nach, als er sich auf dem Rücken liegend wiederfand.
"Du hast dazu gelernt." Borin nickte anerkennend. "Ich kann mich noch gut erinnern, wie dir das letzte Mal der Rudelführer fast die Hand abgerissen hätte."
Luka trollte sich zurück in seine Ecke, als Frost losließ und sich aufrichtete.
"Manche Fehler macht man nur einmal", entgegnete Frost mit einem Seitenblick auf seine Hand.
"Sollte man zumindest", lachte Borin. "He, Luka, komm her!" Der Kopf des Rudelführers hob sich erneut, dann trottete der Hund zu seinem Herrn. Borin führte ihn zum Schlitten, wo er ihm das Geschirr anlegte. Nacheinander holte er vier weitere Hunde aus ihren Zwingern, um sie ebenfalls einzuspannen.
"So, abfahrtsbereit", verkündete er mit einem zufriedenen Grinsen. "Den Schlitten hab ich erst gestern wieder auf Vordermann gebracht. Bevor der auseinanderfällt, rasier ich meinen Bart ab. Wir können jederzeit los."
Eine erneute Inspektion des Schlittens erschien Frost unnötig. Er wusste, dass er sich auf seinen Freund verlassen konnte.
"Borin... Ich will mich zuerst alleine mit Esthera treffen. Ich freue mich, dich nach all den Jahren wiederzusehen, aber ich brauche noch etwas Zeit."
Doch entgegen seiner Erwartung ließ sich Borins Laune trotz seiner Entscheidung nicht schmälern.
"Kein Problem, Frost. Du hast Recht. Bin wohl etwas voreilig. Hab ganz vergessen, wie lange du deine Esthera nicht mehr gesehen hast."
"Danke Borin", meinte Frost während er auf den Schlitten sprang und nach den Zügeln griff. "Komm doch einfach in zwei Tagen nach. Was schulde ich dir für den Schlitten?"
Der Züchter machte seine Frage durch eine wegwerfende Geste wertlos.
"Gar nichts. Ich leih ihn dir einfach. Um der alten Freundschaft wegen."
"Ich schuld dir was", lächelte Frost. Noch einmal gab er sich dem festen Händedruck seines Freundes hin. "Bis bald, alter Freund."
"Das will ich wohl hoffen. Und grüß Esthera von mir."
"Werde ich ausrichten."
Nachdem Borin vom Schlitten zurückgetreten war, legte Frost die Finger an den Mund. Ein kurzer, lauter Pfiff und die Hunde trabten los. Die Zügel fest in der Hand und das Herz vor Sehnsucht schmerzhaft pochend, lenkte Frost den Schlitten in Richtung der Hauptstraße. Mit blendendem Licht begrüßte ihn die Morgensonne, als er wenig später das Tor des dritten Ringes passierte und in das geschäftige Treiben der Stadt eintauchte.
28.02.2004, 15:20 #4
Superluemmel
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Hechelnd hetzten die Hunde über die verschneiten Ebenen der Rimmersmark. Ihre Zungen hingen wie rötliche Lappen aus den halb geöffneten Mäulern, gefrorene Luft entwich in kleinen Wölkchen den schnaubenden Nüstern. Hinter sich zogen die Tiere den schmalen, tief liegenden Schlitten. Ab und zu nahm das gleichmäßige, sanfte Schleifen der Kuven einen helleren Klang an, wenn sie über eine versteckt unter dem Pulverschnee liegende Eisplatte glitten, selten erscholl auch ein hartes Knacken, wenn Eisklumpen unter dem geschliffenen Stahl auseinanderspritzten.
Obwohl die Sonne als grellgelbe Scheibe am zutiefst blauen Himmel prangte, war die Kälte schneidend. Besonders der Fahrtwind verbiss sich mit unsichtbaren Fängen in jegliche ungeschützte Hautstelle die er finden konnte. Aufgewirbelte Eiskristalle stachen wie Nadeln in die gereizte Haut. Selbst die Luft schien zu kalt zum Atmen. Aus Erfahrung wusste Frost, dass diese Tage zu den kältesten des Jahres gehörten. Um sich vor der beißenden Kälte zu schützen, trug er unter dem im Wind wild umherspringenden Umhang einen weiten Mantel, ähnlich dem, den er in Khorinis meistens getragen hatte. Der hohe Kragen schützte sein Gesicht zum einen teilweise vor dem Fahrtwind, zum anderen staute sich die Wärme der ausgeatmeten Luft und erleichterte das Atmen.
Schon seit mehreren Stunden steuerte er den Schlitten das entlang, was man im Sommer als Straße erkennen konnte, im Winter jedoch nichts weiter als eine lose Aneinanderreihung dutzender Wegsteine darstellte. Im Prinzip hätte er genauso gut quer über die vereisten Felder fahren können. Die Stadt war längst im Dunst der in der Morgensonne aufsteigenden Nebel verschwunden, vor ihm lag das nur selten vom dunklen Grün der Nadelwälder durchbrochene Grau der Eisebenen. Im Land um die Hauptstadt herum konnte im Sommer sogar Feldwirtschaft betrieben werden, auch wenn der Boden aufgrund der langen Winter nur ungern und in kleiner Zahl seine Früchte hergab. Um die spärlichen Beträge zu kompensieren, waren die Äcker dafür umso größer angelegt. Bei klarem Wetter konnte man meilenweit ins Land blicken und trotzdem am Horizont noch weitere Felder entdecken. Im Winter zeugten nur die vereinzelt in der Landschaft stehenden Höfe davon, dass es hier etwas anderes als Schnee und Eis geben könnte. Die meisten Gehöfte standen zu dieser Zeit leer. Die meisten Bauern zogen nach Hammerfoldt oder eine der anderen kleinen Städte der Umgebung um der Kälte zu entgehen.
Mittlerweile jagte der Schlitten über den sanft gewellten Untergrund des westlichen Hügellandes. Vereinzelt brachen kantige Felsbrocken aus der weißen Decke hervor, vermutlich Überbleibsel aus einer Zeit, zu der die nördlichen Gletscher ihre eisigen Finger noch bis zum Meer ausstreckten. Noch weiter im Westen reckten die Berge der Westzinnen ihre steinernen Häupter dem stahlblauen Himmel entgegen. Vielleicht zwei Meilen entfernt erhob sich der dunkle Umriss eines alten Wachturms aus einer düsteren Waldinsel, die sich nahe des Straßenverlaufs ausbreitete. Und nur ein kleines Stückchen weiter waren mehrere dunkle Flecken zu erkennen. Ein abgehakter Pfiff und kurzer Ruck an den Zügeln ließen die Schlittenhunde langsamer laufen und schließlich ganz zum Stillstand kommen. Mit einem sanften Ruck kam der Schlitten vollends zur Ruhe, die meisten Hunde legten sich sofort hin oder zupften den Schnee von ihren Pfoten. Frost schirmte währenddessen seine Augen ab, um sie vor der blendend hellen Sonne zu schützen. Dennoch machten es die unzähligen, blitzenden Schneekristalle beinahe unmöglich, auf diese Entfernung genaueres zu erkennen. Einige der schwarzen Punkte bewegten sich, er vermutete, dass es sich um Menschen handelte. Für Wölfe oder andere Tiere waren sie zu langsam und drängten sich zu sehr um die größeren Flecken, die der Waffenmeister bei genauerem Hinsehen als Lastkarren identifizieren konnte. Auf einen weiteren Zügelzug hin liefen die Hunde weiter, doch löste der Anblick des kleinen Konvois Unruhe in dem Krieger aus. Eine innere Stimme sagte ihm, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Jahre in der Kolonie hatten ihn gelehrt, auf seine Gefühle zu hören. Es war besser, vorsichtig zu sein. Er wusste nicht, was sich in den sechzehn Jahren in der Rimmersmark geändert hatte, doch damals war sie sicherlich alles andere als ein ungefährliches Gebiet gewesen. Zwar hatten sich die Eisriesen des Nordens die letzte Zeit erstaunlich ruhig verhalten, doch gab es auch noch genug andere Gefahren, die einem unachtsamen Reisenden schnell den Kopf kosten konnten. Immerhin konnte er sich recht sicher sein, dass sein ungutes Gefühl nicht auf der Anwesenheit von Eisriesen beruhte. Vielleicht kam er langsam etwas in die Jahre, doch um einen Eisriesen von einem Lastkarren zu unterscheiden, brauchte er keine Adleraugen. Was war das überhaupt für ein Gedanke, er und alt werden. Wenn selbst Sturm in seinem Alter noch so kraftvoll zuschlagen konnte, dann würde er es mit Leichtigkeit können, sobald er ihn in ein paar Jahrzehnten eingeholt hatte. Alt war man erst, wenn die Verwandtschaft anfängt das eigene Grab auszuheben.
Als er sich dem Konvoi näherte, wusste er, was ihn gestört hatte. Die Menschen bewegten sich - die Karren jedoch nicht. Der Grund war offensichtlich: Ein reger Kampf war im Gange, der Geleitschutz erwehrte sich erbittert den Angriffen einer größeren Bande vermutlicher Wegelagerer. Auf einem Kutschbock saß der zusammengesunkene und von mehreren Pfeilen gespickte Wagenlenker, einige weitere Reisende, wahrscheinlich Händler, suchten Schutz unter den hölzernen Karren. Sonnenlicht brach sich auf den stählernen Panzerungen des Geleitschutzes, die mit wilden Schwerthieben und Lanzenstichen versuchten, die Plünderer von den Karren fernzuhalten. Die Angreifer trugen hauptsächlich Fellumhänge und Lederpanzerungen, allerdings blitzte es ab und zu metallisch auf, wenn sich ein Lichtstrahl auf eine sich zwischen den Fellen versteckende Eisenplatte verirrte. Auf einer Anhöhe standen zwei Männer mit Langbögen, die von den Nahkämpfern geschützt die Konvoiwachen unter Beschuss nahmen. Die Schützen waren gut, anstatt wie wild ihre Pfeile dem Gegner entgegenzuschicken, beschränkten sie sich darauf, ab und an einen gezielten Schuss abzugeben und ihre Feinde gezielt auszuschalten. Bereits mehrere Männer in glänzenden Stahlpanzern und blauen Umhängen lagen am Boden, ihre Hände um die gefiederten Schäfte der todbringenden Geschosse verkrampft.
Doch glücklicherweise standen die beiden Scharfschützen mit dem Rücken zu Frost. Erst, als er noch knapp fünfzehn Schritt entfernt war, drehte sich der linke um. Dennoch brauchte er noch gut eine Sekunde um zu erkennen, dass es sich bei dem heranrasenden Schlitten um eine weitere Gefahr handelte. Frost sah, wie er den Langbogen hob, seine Hand schnellte in einer routinierten Bewegung über seine Schulter zum Köcher, fischte einen Pfeil heraus und zog die Sehne durch, ohne zwischenzeitlich zur Ruhe zu kommen. Noch während die Sehne ihr trauriges Lied erklingen ließ und sich der zweite Schütze umdrehte, knickte Frost mit dem linken Knie ein und duckte sich zur Seite. Im selben Moment, in dem er sich vom Schlitten abstieß, spürte er einen heißen Luftzug seine Wange streifen und ein leichtes Brennen hinterlassen.
Dann krachte er auch schon mit einem Aufschrei gegen die Brust des Scharfschützen, riss ihn von den Beinen und rollte vom eigenem Schwung getragen mehrere Meter weit durch den Schnee. Unweit neben ihm schlug ein weiterer Pfeil mit dumpfen Pochen in den Schnee, obwohl seine linke Schulter durch den Aufprall halb taub war und nur noch aus Millionen winziger Insekten, die mit ihren winzigen Beinchen seine Nervenbahnen bearbeiteten, zu bestehen schien, drückte er sich in eine knieende Position hoch. Gleichzeitig griff er mit der Rechten nach dem Eisbrecher, wirbelte zum zweiten Schützen herum und schleuderte ihm die funkelnde Klinge entgegen. Das Schwert wirbelte direkt auf den Banditen zu, dieser duckte sich gerade noch rechtzeitig zur Seite weg, um nicht den Kopf zu verlieren. Dennoch hackte die rotierende Klinge den Bogen auseinander, als ob es sich dabei um nichts weiter als ein Streichholz handeln würde. Sein Kumpane stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab, während er keuchend seine Rippen hielt. Dennoch stemmte er sich nach wenigen Sekunden auf die Beine und zog ein Kurzschwert, wenn auch wankend. Auch der andere Schütze hatte ein Schwert gezogen und näherte sich langsam dem ebenfalls mittlerweile wieder stehenden Waffenmeister.
Ruhig blickte Frost den Angreifern entgegen, während er im Stillen versuchte, den Schmerz aus seiner Schulter zu verbannen. Er wusste genau, dass er sich im Notfall auf seinen Arm verlassen konnte. Das Mistding gaukelte ihm nur vor, nicht mehr mitmachen zu wollen. Die Taubheit würde wieder verfliegen, sobald er ihn richtig bewegte. Für weitere Gedanken hatte er keine Zeit, denn die Banditen griffen bereits an. Und er hatte noch nicht einmal sein zweites Schwert gezogen. Während er dem ersten Angriff spielerisch tänzelnd auswich und die Klinge in den Schnee hacken ließ, fiel ihm ein, dass das eigentlich auch so bleiben sollte. Die Flammenschneide mochte ihm zwar inzwischen gehorchen, aber das änderte nichts daran, dass das Schwert gerne Blut kostete.
"Du hättest dich nicht einmischen sollen, Fremder!", knurrte einer der Räuber und versuchte offensichtlich, den Waffenmeister von seinem zweiten Gegner abzulenken.
Der versuchte die Gelegenheit auszunutzen und griff von der Seite her an. Die sirrende Schwertklinge kostete den Krieger ein paar einzelne Haarsträhnen, wurde dann jedoch abrupt gestoppt, als Frost seinen gepanzerten Unterarm gegen die Waffenhand des Angreifers krachen ließ. Sekundenbruchteile später knackten die angeschlagenen Rippen seines Gegners hörbar unter dem Aufprall von Frosts Ellenbogen. Vor Schmerz brüllend ließ der Scharfschütze seine Waffe fallen und ging zu Boden. Als daraufhin eine Schwertklinge nach Frost stocherte und durch ein schnelles Wegdrehen seines Körpers nur an seiner Brustpanzerung entlangschrammte, überdachte der Waffenmeister seinen erst kürzlich gefassten Entschluss noch einmal.
Nachdem er den Angreifer über sein plötzlich gestrecktes Bein stolpern ließ und mit einem harten Schlag gegen die Schläfe auffing, dachte er jedoch wieder anders. Er hatte sich nicht getäuscht - die Schützen mochten zwar tödlich im Umgang mit ihren Bögen sein, doch im Nahkampf waren sie ihm unterlegen. Je länger er darüber nachdachte, desto leichtsinniger erschien ihm der kurze Kampf gegen die beiden. Einen Moment lang hatte er gedacht, er hätte sich getäuscht. Vielleicht wurde er doch alt?
Blödsinn.
Seinem Kampfinstinkt folgend, verdrängte der Waffenmeister die überflüssigen Gedanken und las im Laufen den Eisbrecher auf, während er den Hügel hinabsprintete. Jetzt wo er darüber nachdachte, glaubte er, dass er früher bei den Kämpfen nicht so viel Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Ein Zeichen des Alters? Um sich dieser Frage zu entziehen, stürzte sich Frost kurzerhand auf den nächsten Banditen, um ihn mit harten Schwerthieben von seinem bereits auf ein Knie gesunkenen Gegner davonzutreiben. Dabei ließ er einen feindlichen Hieb an seiner Schulterpanzerung abgleiten, was sein gerade Besserung versprechender Arm mit erneuter Taubheit dankte. Ein Schlag mit der flachen Seite der Klinge gegen den Waffenarm seines Gegners glich diesen Effekt aus. Um einem Faustschlag zu entgehen, sprang Frost schnell zur Seite, wirbelte in altbekannter Tradition herum und brachte unter wehendem Umhang sein Bein nach oben, um begleitet vom Knacken seiner Halswirbel den Banditen zu Boden zu schleudern. Fast wieder zu alter Form zurückfindend, hob er erneut kampfbereit den Eisbrecher, während er aus kalt blitzenden Augen nach einem weiteren Gegner suchte. Der einzige in Sicht wurde allerdings gerade von einer vorstechenden Lanze aufgespießt.
Mit dem Leben des Banditen verging auch der Waffenlärm. Für die Dauer sich zu qualvoller Länge streckender Sekunden wurde es still. Dann wurde das erste, qualvolle Husten eines Verwundeten laut. Nach und nach füllte sich die Luft mit den verschiedensten Geräuschen, Klingen glitten scharrend in ihre Scheiden zurück, Händler krochen mit angsterfüllten Gesichtern unter ihren Karren hervor, mit klirrender Rüstung schleppte sich einer der Krieger des Geleitschutzes in Richtung eines Wagens.
"He, ihr da, Fremder!", hörte Frost eine Frauenstimme in seine Richtung rufen.
Beim Umdrehen erkannte er den Krieger, dem er wenige Minuten zuvor den Banditen vom Hals gehalten hatte. Jetzt fiel ihm auch auf, dass es sich um eine Frau handelte. Die in der Sonne glänzenden und von Blutspritzern befleckte Stahlhaut einer leichten Plattenrüstung schmiegte sich um ihren Körper, ihr Kopf wurde bis auf das Gesicht von einem passenden Helm verdeckt, um die Schultern schwang sich derselbe blaue Umhang wie bei den anderen Wachen. Ihre Hand lag noch immer auf dem Griff ihres Langschwertes, als sie sich dem Waffenmeister näherte.
"Redet ihr mit mir?", fragte Frost, obwohl er die Antwort ohnehin schon wusste. Leise sirrend fand der Eisbrecher den Weg zurück in sein ledernes Zuhause.
"Natürlich rede ich mit euch!", erwiderte die Kriegerin forsch, "Oder seht ihr sonst noch jemanden, der einfach aus dem Nichts auftaucht?"
"Ihr scheint nicht sonderlich erfreut darüber", meinte Frost und gestattete sich ein leichtes Lächeln, "Wäre es euch lieber gewesen, wenn ich weitergefahren wäre?"
"Ich kann gut auf mich selbst aufpassen, ebenso wie der Rest von uns."
"Glaube ich euch gerne, aber in dem Moment sah es für mich eher so aus, als ob ich helfen sollte." Der Waffenmeister bemerkte, dass sich der Stoff ihrer Hose unter der Stahlplatte ihrer Oberschenkelpanzerung langsam rot färbte. "Ihr seid verletzt. Ich hoffe, es gibt unter euren Begleitern jemanden, der sich um eure Wunden kümmern kann?"
Die Kriegerin knirschte mit den Zähnen.
"Sagt mir nicht, was ich zu tun habe sondern beantwortet lieber meine Fragen! Wer seid ihr und was sucht ihr in dieser Gegend?"
"Ich bin nur ein einsamer Wanderer auf der Reise nach Thjerenfeldt. Und zwischendurch helfe ich harmlosen Händlerkonvois gegen Banditenangriffe."
Seine Gesprächspartnerin ließ sich nicht weiter reizen.
"Was sucht ihr in Thjerenfeldt? Das ist nur ein kleines Dorf mitten im Nirgendwo. Falls ihr ein Söldner seid, solltet ihr besser nach Hammerfoldt zurückkehren."
"Ich bin kein Söldner", entgegnete Frost gelassen, obwohl die Einschätzung als Söldner sein Ehrgefühl aufwühlte. "Ich will lediglich ein Versprechen erfüllen, das ich vor vielen Jahren gegeben habe."
"Dann solltet ihr euch besser beeilen. Bis Thjerenfeldt sind es noch einige Meilen und die Sonne geht in wenigen Stunden unter. Falls ihr nicht bei den Wölfen schlafen wollt, solltet ihr besser schauen, dass ihr weiterkommt."
Die unverhohlene Freundlichkeit dieser Dame war beinahe atemberaubend. Wäre das Wiedersehen mit Esthera nicht nur wenige Stunden entfernt gewesen, hätte er sich vielleicht auf einen kleinen Streit eingelassen. Vor ein paar Jahren hätte kein Jungspund so mit ihm geredet. Wie schnell sich die Zeiten doch ändern konnten...
"Nun, dann sollte ich wohl besser schauen, dass ich weiterkomme." Trotz allem konnte Frost sich nicht verkneifen, den Sarkasmus durchsickern zu lassen. "Und ihr solltet vielleicht das Gleiche tun. Bis Hammerfoldt ist es noch ein gutes Stück und wenn die Sonne für euch keine Ausnahme macht, wird es bald dunkel. Ich wünsche euch noch eine sichere Reise."
Mit dem freundlichsten Lächeln das er gerade aufbringen konnte, verabschiedete sich der Waffenmeister von der etwas verdutzt wirkenden Kriegerin und ließ einen lauten Pfiff erschallen. Nur Sekunden später zogen die hechelnden Hunde unter Führung Lukas den Schlitten herbei. Auf Borins Tiere war nach wie vor Verlass. Wenigstens etwas, das sich in diesem Land nicht geändert hatte.
14.03.2004, 09:47 #5
Superluemmel
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Nacht hüllte sich um das Land, breitete ihre schwarzen Schwingen aus um den Himmel zu verdecken und den Weg für den Aufstieg des Mondes zu öffnen. Und mit der Nacht kam die Stille. Außer den hechelnden Hunden, den schleifenden Kufen und Frosts eigenem, gleichmäßigen Atmen war nur selten ein leises Rieseln zu hören, wenn sich einer der Bäume der auf ihm lastenden Schneemassen entledigte. Stumm wie die Schatten riesiger Wächter säumten die Nadelbäume die Straße, ihre weit über den schneebedeckten Weg reichenden Äste ließen den Eindruck eines endlosen Tunnels entstehen. Nur die sich hinter dem dichten Astwerk versteckende Sichel des Mondes störte den Eindruck der schwarzen Röhre. Und irgendwo in weiter Entfernung war Lichtschein zwischen den Baumsäulen zu erkennen. Ein einzelnes Fenster oder eine offenstehende Haustür, beinahe unsichtbar hinter den vorbeihuschenden Stämmen. Doch der bloße Anblick ließ Frosts Herz schneller schlagen. Er näherte sich seinem Ziel. Ein kalter Schauer lief seinen Rücken herunter. Nicht aufgrund der Kälte. Obwohl es beißend kalt geworden war, ignorierte er den eisigen Kuß der Nacht auf der Haut. Das brennende Verlangen, Esthera wiederzusehen, ließ ihn den Schmerz vergessen und heizte das Feuer in seinem Inneren weiter an.
Nur noch wenige Minuten und er würde sein Ziel erreicht haben. Thjerenfeldt war nur noch wenige hundert Meter entfernt. Schon bald würde sich der Wald auftun, den rasenden Schlitten ausspeien und den Blick auf das in der Dunkelheit schlummernde Dorf freigeben. Der Waffenmeister merkte längst nicht mehr, wie fest er die Zügel umklammerte, mit denen er die erschöpften Schlittenhunde immer weiter antrieb.
"Kommt schon, dieses kleine Stück schafft ihr", flüsterte er in den Fahrtwind, "Die paar Meter, dann bekommt ihr eure verdiente Ruhe..."
Er wusste selbst nicht, ob er zu den Hunden oder mit sich selbst redete. Es war auch unwichtig. Ebenso unwichtig wie die Kälte. Im Moment war alles unwichtig. Sobald er Thjerenfeldt erreicht hatte, konnte er sich über den Rest Gedanken machen. Das Licht tauchte wieder auf. Doch dieses Mal wurde es nicht wieder augenblicklich von einem Baumschatten verschluckt. Und schon nach wenigen Sekunden gesellten sich weitere Lichter hinzu, Lichter auf derselben Höhe, kleine Lichter, dann schmalere, die sich dafür in die Höhe streckten und zuletzt winzige Pünktchen, die sich leicht hin und her wiegten oder von Zeit zu Zeit flackerten, um dann mit neuer Kraft wieder zu erstrahlen. Dann preschten die Schlittenhunde aus dem dunklen Tunnel hervor und auf die leicht hügeligen Felder hinaus, die Thjerenfeldt auf dieser Seite umgaben. Im Schein der Fackeln und offenen Fenster waren die Umrisse mehrerer Häuser zu erkennen, die sich, umgeben von einer gut drei Schritt hohen Palisade aus mehr als mannsdicken Baumstämmen, in die Talsenke drückten. Frosts Wissen nach war der Wall zu Beginn als Schutz gegen die unzähligen wilden Tiere der Umgebung errichtet worden. Doch da die umherstreunenden Wölfe noch nie die Siedlung angegriffen hatten, diente sie nun einzig der Abschreckung von Räuberbanden, deren Anzahl in den vergangenen Jahren stetig zugenommen hatte. Thjerenfeldt war nie allzu groß gewesen. In den Jahren vor Frosts Odyssee waren zwar einige neue Seelen hinzugezogen, dennoch war die Siedlung nichts weiter als ein Dorf. Zwar gab es einen eigenen Schmied, der sein Erz jedoch meist direkt aus der Hauptstadt oder dem ein Stück weiter im Norden liegenden Jorbingen bezog, eine Taverne und gerade genug Bauern, um das Dorf im Notfall autark zu halten, doch wirklich attraktiv wurde Thjerenfeldt nur aufgrund des Handels. Frost glaubte nicht, dass jemals viel mehr als die ungefähr zwanzig Häuser ihren Sitz in diesem abgelegenen Tal finden würden. Einer der Gründe für diese Vermutung war, dass mehr einfach nicht geduldet wurden. Zu viele Menschen zerstörten den Frieden. Und ohne den Frieden würde der Handel untergehen. Deshalb wurde in Hammerfoldt selbst darauf geachtet, dass Thjerenfeldt in seinem jetzigen Zustand erhalten blieb.
In einiger Entfernung konnte der Waffenmeister den kantigen Umriss des Mühlrades erkennen, welches sich träge in der Khjer, jener Mischung aus einem Bach und einem Fluss, drehte, die sich quer durch das Tal wand um dann irgendwo inmitten des dichten Waldes zu verschwinden. Das Wasser der Khjer war selbst im kältesten Winter noch warm genug, um darin baden zu können. Kein Wunder, immerhin entsprang sie direkt aus der Quelle...
Hundebellen erwachte als erstes im Dorf, als sich der Schlitten dem niedrigen, hölzernen Tor näherte. Eine Fackel erwachte in der Dunkelheit, dann trat ein Mann in einfachem Lederharnisch aus den Schatten neben dem Tor, schaffte es gerade noch rechtzeitig, seine Hand vor den gähnenden Mund zu heben und blieb dann in der Mitte des Tores stehen. An einem der beiden Fackeln, die das Tor flankierten, war der Urheber des lauten Bellens angebunden und versuchte der Leine trotzend, seine näherkommenden Artgenossen zu begrüßen.
"Halt! Gebt euch zu erkennen!", kam die überraschend wache und kräftige Stimme des Torwächters als Begrüßung.
Frost brachte den Schlitten knapp zwei Meter vor dem Wächter zum Stillstand, ließ die Zügel fallen und sprang ab. Sein Gesicht hellte sich auf, als er Jergas erkannte. Der alte, brummige Wächter hatte das Tor schon bewacht als Frost zum ersten Mal nach Tjherenfeldt gekommen war. Manche Dinge schienen sich wohl niemals zu ändern.
"Jergas, alter Hund, du wirst einem alten Freund doch nicht den Durchgang verweigern?" begrüßte Frost den Wächter und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
"Zwick mich mal eben, ich hab ?nen komischen Traum...", brummte dieser nur und rieb sich mit der freien Hand die Augen.
"Zum Träumen ist es noch zu früh", meinte Frost und klopfte noch einmal fester auf die Schulter seines Freundes.
"Muss ich aber, sonst bild ich mir noch ein, Leute zu sehen, die seit sechzehn Jahren tot sind."
"Jetzt tust du mir aber Unrecht", entgegnete Frost mit gespieltem Tadel, "Ich werde zwar vielleicht langsam alt, aber ein Gespenst bin ich deshalb noch lange nicht."
Plötzlich ließ Jergas die Fackel fallen und packte Frost mit beiden Händen an den Schultern, um ihn kräftig zu schütteln. Das Bellen des Hundes wurde lauter. In einem der nahen Häuser erlosch das Licht hinter einem der Fenster, nur um dann an einem anderen zu neuem Leben zu erwachen.
"Verdammt nochmal, Frost! Wo warst du die ganze Zeit?! Niemand wusste wo du bist, geschweige denn was passiert war!"
Der Waffenmeister versuchte sicht mit sanftem Druck aus dem Griff Jergas? zu befreien, doch dieser ließ nicht los.
"Auf einmal heißt es, du seist tot, dann, du wärst verschollen! Ein anderer meint, du wärst des Verrats angeklagt worden und dann ein anderer plötzlich, dass du dich in Khorinis herumtreibst! Und jetzt tauchst du einfach so aus dem Nichts auf, als ob nichts geschehen wäre! Wo warst du?!"
"Das ist eine verflucht lange Geschichte", antwortete Frost, nachdem Jergas endlich aufgehört hatte, ihn zu schütteln. "Vielleicht stimmen all die Gerüchte. Oder zumindest ein Teil von ihnen." Ein Seufzer entfloh dem Krieger, als er daran dachte, wie viel er in den nächsten Tagen richtigzustellen hatte. "Ach Jergas, ich werde es dir bei Gelegenheit gerne erklären. Doch im Moment will ich nichts anderes als nach Hause. Ich muss Esthera sehen. Lass mich bitte durch."
Das Gesicht des Wächters zeigte nur zu deutlich, dass ihm die Antwort alles andere als gefiel. Dennoch meinte er schließlich mit seinem üblichen, brummigen Tonfall:
"Ja ja, geh du nur mal. Lass den Schlitten stehen, ich kümmer mich um die Hunde. Aber denk bloß nicht, dass du mir so einfach davonkommst."
"Danke Jergas, du bist ein echter Freund", der Waffenmeister klopfte dem Wächter abermals auf die Schulter.
Dann eilte er durch das Tor und die Straße hinab. Aus einem Fenster zu seiner rechten konnte er einen neugierig vorgestreckten Kopf sehen, der sich erkundigen wollte, wer den Lärm verursacht hatte. Doch als er an dem Haus vorbeikam, verschwand der Kopf schnell wieder. Er störte sich nicht weiter daran. Sofern kein Gott in einem Anflug von Langeweile sein Haus versetzt hatte, musste er noch durch den halben Ort. Es war eines der größten Häuser Thjerenfeldts, wie viele der anderen Häuser verfügte es ebenfalls über ein Obergeschoss, zudem allerdings noch über zwei zusätzliche Flügel und einen kleinen Innenhof. Er hatte damals eigenhändig beim Bau mitgeholfen, zusammen mit einigen seiner engsten Freunde. Das Ergebnis war in gewisser Hinsicht sicherlich als eigenwillig zu bezeichnen, da sich der übliche, hammerfoldter Baustil mit dem der eher dörfischen Blockhütten kreuzte. Somit bestand das Fundament aus festem Stein, das eigentliche Haus jedoch aus dickem Holz. Der vordere Teil konnte wohl als Hauptgebäude bezeichnet werden, dort befanden sich die am meisten genutzten Räume. Zudem beschränkte sich das Obergeschoss einzig auf diesen Bereich. Der Rest des Hauses spannte sich wie ein Ring um den Innenhof. Einen Abschnitt dieses Rings hatte er damals speziell für Gäste einrichten lassen, da er oft Besuch empfangen hatte, sofern er in Thjerenfeldt war. Meistens hatte es sich dabei um Freunde gehandelt, eher selten um Boten aus der Hauptstadt oder sonstigen, sogenannten "höheren Besuch".
Das Haus lag etwas abseits der restlichen Siedlung und der Weg schien noch einmal sechzehn Jahre zu dauern. Mit jedem Schritt, jeder vergangenen Sekunde wurde die Sehnsucht stärker, wollte sein Herz von innen verbrennen und ließ seine Gedanken in einem Tornado aus Gefühlen tanzen. Mit aller Gewalt hämmerte sein Herz gegen seinen Brustkorb, als ob es herausbrechen wollte um schneller zum Haus zu gelangen. Er dachte an Esthera, versuchte sich den lieblichen Glanz ihrer klaren, blauen Augen in ihrem sanften, schmalen Gesicht vorzustellen, das lange kastanienbraune Haar, das stets einen Hauch des Frühlings in sich zu tragen schien. Wie würde sie wohl reagieren, wenn sie ihn wiedersah? Hatte sie ihn nicht vielleicht schon vergessen? Der Gedanke schmerzte wie ein Schmerzstich in seiner Brust. Nein, das würde sie niemals. Unvorstellbar. Doch sie hatte mittlerweile Elistin geheiratet. Was, wenn sie es nicht nur getan hatte, um ihre und Sheyras Zukunft zu sichern? Frost glaubte zu spüren, wie er sich der Schwelle zum Wahnsinn annäherte. Er durfte nicht daran denken. Es waren falsche Gedanken, und er wusste es. Er würde zurückkehren und alles würde wieder in Ordnung kommen. Vielleicht würde es einige Zeit dauern, bis sich die Wogen geglättet hatten, doch dann konnte er wieder leben. Zusammen mit Esthera. Die sechzehn Jahre in Einsamkeit und Verzweiflung würden wie ein Alptraum verblassen. Und das Leben normal weitergehen.
In seinem Haus brannte noch Licht, als er endlich die schwere Holztür erreichte. Kurz blieb er stehen und trat den gröbsten Schnee von den Stiefeln, dann trat er an die Tür und hob die Hand um zu klopfen. Doch er führte die Bewegung nicht zu Ende. Konnte er wirklich einfach in dieses Haus treten? Mittlerweile waren sechzehn Jahre vergangen, seitdem er zum letzten Mal einen Fuß hinter diese Schwelle gesetzt hatte. Jergas hatte gemeint, dass niemand so recht wusste, was mit ihm geschehen war. Wahrscheinlich hielten ihn die meisten für tot. Konnte er nun ohne weiteres zurück in ihr Leben treten? Niemand rechnete mehr mit ihm. Selbst seine alten Freunde hatten ihn nicht mehr sofort erkannt. Was nach sechzehn Jahren auch kaum noch zu erwarten war. Vielleicht erkannte ihn nicht einmal mehr Esthera selbst. Jeder Schlag seines Herzens ließ Frosts gesamten Körper erzittern. Wie ging es Sheyra? Konnte sie sich überhaupt noch an ihren Vater erinnern? Jede verstreichende Sekunde brachte neue Fragen mit sich. Es gab kein Zurück mehr. Schwer durchatmend spannte Frost seine Hand. Dann klopfte er. Dreimal war das dumpfe Pochen seiner behandschuhten Faust auf dem dicken Holz zu hören. Im Haus klirrte etwas. Dann das Schaben eines Stuhls auf dem Boden. Der Waffenmeister schluckte. Er hörte schwere Schritte näherkommen. Sie plötzlich verstummen. Direkt hinter der Tür. Etwas klackte im Schloß. Er hörte wie ein Riegel zur Seite geschoben wurde.
Dann öffnete sich die Tür.
05.04.2004, 13:49 #6
Superluemmel
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"Ich grüße euch Fremder."
Im hell erleuchteten Hauseingang stand Elistin. Mit der linken Hand die schwere Tür offenhaltend und mit der rechten imaginäre Staubkörner von seiner Schulter scheuchend, war seine schlanke, etwas gedrungen wirkende Figur in den ersten Sekunden nur als schemenhafter Umriss im unsteten Licht der Öllampe zu erkennen, die vom Wind erschrocken knapp unter der Decke des kleinen Vorraumes zitterte.
"Was ist euer...", mitten im Satz abbrechend, stieß er die Tür ganz auf, um den Schein der Lampe bis in das Gesicht der düsteren Gestalt vor ihm dringen zu lassen. Ein Windstoß verfing sich im Raum, strich im Vorbeiziehen durch Elistins schulterlanges, schwarzes Haar und ließ die Eckschatten im Takt der schwingenden Lampe wachsen und schrumpfen. Elistins Mund öffnete sich halb, als ob er etwas nachfragen wollte, sich dann jedoch eines Besseren besann. Für einen Moment kniff er die Augen zusammen, blinzelte, dann glitt sein Blick erneut über Frosts Gesicht, fuhr wie unsichtbare Finger jede einzelne Kontur nach, um den vertrauten, aber doch fremd wirkenden Mann vor sich endlich einordnen zu können. Schließlich verzogen sich die hinter dem Bart halb verborgen liegenden Mundwinkel zu einem unsicheren, aber dennoch freundlichen Lächeln.
"... Frost?"
Doch es war nicht Elistins Stimme, die leise, wie eine behutsam gezupfte Melodie fragend durch das Zimmer schwebte. In der Tür zum Hausflur war eine Gestalt aufgetaucht. Und die Welt hörte auf, zu existieren. Alles um den Krieger herum verblasste, verlor sich in der Unwichtigkeit der bloßen, materiellen Existenz und ließ Frost allein. Allein mit dem Titanen, der von innen gegen seinen Brustkorb klopfte und jede weitere Millisekunde, in der er regungslos in der Haustüre stand, zur Qual werden ließ. Allein mit dieser unscheinbaren Gestalt, deren zarter Körper sanft vom Flammenschein der sich im Wind wiegenden Lampe umschmeichelt wurde, seinen Blick mit unsichtbaren Ketten an sich fesselte und ihn die Welt um sich herum vergessen ließ. Der Anblick Estheras verschlang die angsterfüllte Unruhe, die sich im Verlauf der letzten Tage in dem Waffenmeister aufgestaut hatte, verbrannte mit glühender Intensität den Käfig aus Eis, der sein Herz seit sechzehn langen Jahren gefangen hielt. Er fühlte seine durch die Kälte und sehnsuchtsvolle Einsamkeit versteinerte Maske bröckeln, als sie von einem erneut aufflammenden Funken der einstigen Leidenschaft aufgebrochen wurde. Sein Bein bewegte sich ohne sein Zutun vorwärts, seine Schulter schob etwas oder jemanden unsanft zur Seite, als Frost langsam wie ein Schlafwandler auf die zierliche Gestalt unter dem Türrahmen zuschritt. Die schweren Kampfhandschuhe klirrten zu Boden, seine Rechte hob sich um die leichte Kurve von Estheras Kinn zu berühren. Zärtlich strichen seine Finger über ihre weiche, warme Haut, während sich seine Linke um ihre Hand faltete. Die bloße Berührung jagte wie eine Feuerwalze durch seinen Körper, fröstelnd wurde ihm erst jetzt gewahr, wie tief die Außentemperaturen mittlerweile gefallen waren.
"Du bist zurück..."
Estheras Augen glitzerten wie kristallklare, blaue Seen die etwas zu viel Wasser führten, als ihre Finger Frosts Wange berührten. Langsam glitten sie an ihr herab, brachten die kurzgeschorenen Barthaare zum Knistern und hinterließen auf ihrem Weg zu seiner Brust einen Strom wohliger Wärme. Eine einzelne Träne trat über das Ufer ihres linken Auges, kullerte als schillernde Perle über den Hügel ihres Wangenknochens und wurde von Frosts Zeigefinger sachte beiseite geschoben. Esthera weinen zu sehen, versetzte dem Waffenmeister trotz aller Wiedersehensfreude einen schmerzhaften Stich. Noch immer ihre Hand haltend, strich er vorsichtig, wie bei einer zerbrechlichen Rose, ein paar Strähnen des langen, kastanienbraunen Haares aus ihrem Gesicht. Mehr Tränen fanden ihren Weg zu ihrem schmalen Kinn, zu viele, um sie aufzuhalten. Die schillernde Spur, die von der ersten Träne hinterlassen worden war, wuchs zu einem Bächlein, welches schon bald von einem kleinen Sturzbach verschlungen wurde.
"Was ist mit dir geschehen?"
Ihr Blick glitt an Frost herab, bis er sich an ihre Hand heftete, die wenige Haarbreit über dem mattschwarzen Brustpanzer hängengeblieben war. Ein Kribbeln durchlief Frosts Körper, wie der Luftzug einer Hand, die dicht über seinen Rücken hinwegstrich. Und obwohl es nur ein Hauch war, glaubte er zu fühlen wie er jede einzelne Faser seines Körpers durchdrang. Für diese unsichtbare Macht bestand er aus nichts als einem Gitter, zwischen dessen Streben sein Wesen ausgebreitet hing. Der mysteriöse Windhauch verging in der Nacht und Frost blickte wieder in Estheras inzwischen von roten Schlieren leicht verklärte Augen. Als sie sprach, war ihre Stimme leise, als ob sie fürchtete, den gerade begonnnen Traum durch zu laute Worte vergehen lassen zu können.
"Ich weiß, dass vor mir noch immer derselbe Mann steht, der mir vor sechzehn Jahren versprach, bald zurückzukehren. Und doch hast du dich verändert... weniger äußerlich als in deinem Inneren... Du wirkst so... düster..."
"Und dennoch strahlt mein Herz vor Freude, wenn ich dich sehe."
Er lächelte, warm genug um sämtliche Kälte, die von den düsteren Hornplatten des Dämonenlords ausging, in der Ehrlichkeit seiner Antwort verglühen zu lassen.
"Ich habe die letzten sechzehn Jahre nur gelebt, um diesen Moment erfahren zu dürfen. So oft ich mein Schwert auch hob, ich tat es einzig und allein, um dich wiedersehen zu können. Und wie du weißt, musste ich auch Opfer bringen. Doch da wir nun endlich wieder vereint sind, weiß ich, dass sich jedes dieser Opfer gelohnt hat."
Esthera wandte den Kopf ab und blickte zu Boden. Frost spürte weitere, heiße Tränen die über den Rücken seiner Hand rannten und gen Boden stürzten.
"Es ist so lange her..." Er fühlte ihre Hand zittern, ihre schultern bebten leicht, als sie mit leiser Stimme weitersprach. "Nachdem du auf dieses Schiff gestiegen bist, hatte nie wieder jemand von dir gehört. Niemand wusste, wo du warst, geschweige ob du überhaupt noch lebtest. Jahrelang wartete ich auf eine Botschaft, irgendeinen Hinweis... Tag für Tag war das Warten umsonst... Selbst Elistin wusste nicht, was passiert war... Dann kam ein Brief von diesem Nek, in dem er schrieb, dass du in der Kolonie von Khorinis festsitzen würdest. Neuigkeiten vom Zusammenbruch der Barriere erreichten Hammerfoldt, doch von dir fehlte weiterhin jede Spur... Und jetzt... jetzt tauchst du einfach aus der Nacht auf..."
Der Krieger schob seine Hand sanft unter das Kinn seiner Geliebten, um erneut in ihr Gesicht blicken zu können.
"Glaube mir, ich würde lieber tausend Jahre in Beliars Feuern brennen, als dich auch nur für einen Tag freiwillig zu verlassen. Mögen die Götter jene Reise verdammen, die uns auf solch brutale Weise voneinander trennte. Jede Nacht, wenn mir der Gedanke an dich den Schlaf raubte, verfluchte ich mich dafür, jemals einen Fuß auf die Planken der Galeone gesetzt zu haben. Doch auch jedesmal, wenn Beliar bereits seine Klauen nach mir ausgestreckt hatte, gab mir das Verlangen, dich wiederzusehen neue Kraft. Und dennoch... konnte ich nichts tun, um früher zurückzukehren..."
Das Klacken einer schweren Tür beraubte den ständigen Luftzug seines Ursprungs, der Tanz der kleinen Öllampe verlor zunehmend an Wildheit. Als Frost daraufhin den Kopf drehte, sprang ihm die Erkenntnis, Elistin vollkommen überrant zu haben, mit der Gewalt eines Luzkan ins Gesicht. Gerade, als er zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, winkte sein alter Freund jedoch ab.
"Denk gar nicht erst dran", meinte Elistin lächelnd, "Immerhin ist es dein Haus, in das du gerade eingefallen bist."
Er schob sich an Frost und Esthera vorbei und trat halb in den Hausflur hinein. Ein verschmitzt-freundliches Grinsen umspielte seine Mundwinkel, als er mit einer gespielt vornehmen Geste ins Hausinnere einlud.
"Ohne euch zwei stören zu wollen - Meint ihr nicht, dass es drinnen etwas gemütlicher ist? Außerdem siehst du so aus, als ob du einen Tee vertragen könntest, Frost."
"Danke für das Angebot, alter Freund", erwiderte Frost dankbar. Erneut hing sein Blick an Estheras, als er weitersprach. "Wir sollten wirklich reingehen. Die Nacht ist noch lang und ich denke, ich habe euch viel zu erzählen..."
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